„Stechuhr? Arbeitszeiterfassungs-App? Brauchen wir nicht …“ - gerade in kleineren Unternehmen gilt oft Vertrauensarbeitszeit. Das steht laut Bundesarbeitsgericht jedoch nicht im Einklang mit dem Arbeitsrecht.
Fast schon beiläufig hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) vor kurzem eine Einschätzung der Rechtslage veröffentlicht, die in vielen deutschen Unternehmen Handlungsbedarf auslöst: Der Arbeitgeber ist „gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen“ (Aktenzeichen: BAG, 13.09.2022 - 1 ABR 22/21).
Ausnahmen ergeben sich aus der Entscheidung nicht: Wer in Deutschland Arbeitskräfte beschäftigt, muss ein System zur Arbeitszeiterfassung einführen. Diese Verpflichtung gilt auch für Betriebe, in denen zum Beispiel nur 520-Euro-Kräfte oder kurzfristige Aushilfen beschäftigt werden, und auch für Beschäftigte, die im Homeoffice oder im Außendienst arbeiten.
Mit seiner Entscheidung wendet das BAG eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs von 2019 an, das sogenannte Stechuhr-Urteil. Das Urteil verlangte von den EU-Mitgliedstaaten, die Arbeitgeber dazu zu verpflichten, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.“ (EuGH, 14.05.2019 - C 55/18). Diese Vorgabe wurde vom BAG nicht nur als Auftrag an den Gesetzgeber verstanden. Es wendet die Forderung direkt auf die Arbeitgeber an.
Begründet wird die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung mit dem Arbeitsschutzgesetz. Das verpflichtet Arbeitgeber, zur Gewährleistung von Arbeitsschutz-Maßnahmen für „eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“ (§ 3 ArbSchG). Dazu zählt für den EuGH und das BAG ein System zur Arbeitszeiterfassung. Es soll verhindern, dass die gesetzlich erlaubten maximalen Arbeitszeiten überschritten und die vorgeschriebenen Pausen nicht eingehalten werden.
Arbeitgeber müssen erstens für ein System sorgen, mit dem die Arbeitszeiten erfasst werden können. Zweitens sollten sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anweisen, davon auch wirklich Gebrauch zu machen.
„Uns egal, wann und wie viel Sie arbeiten, für uns zählen nur Ihre Ergebnisse“ – ein solches Laissez-faire-Verständnis von Vertrauensarbeitszeit verstößt gegen geltendes Arbeitsrecht. Das liegt aber nicht daran, dass die Gerichte Unternehmen zu ständiger Kontrolle zwingen wollen. Entscheidend ist vielmehr, dass Arbeitgeber ihrer Fürsorgepflicht auch in Bezug auf die Einhaltung von Pausen- und Arbeitszeiten nachkommen sollen. Arbeitgeber müssen feststellen können, ob Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter länger arbeiten, als das Gesetz erlaubt – das ist der Kern der jetzt vom BAG bekräftigten EuGH-Rechtsprechung.
Homeoffice lässt sich damit durchaus vereinbaren. Schließlich können dank mobiler digitaler Zeiterfassungssoftware die geleisteten Zeiten auch dort minutengenau erfasst werden. Fälle, in denen die Grenzen von Freizeit und Arbeitszeit immer weiter verschwimmen, sollten dagegen der Vergangenheit angehören: etwa wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst in der Freizeit, im Feierabend oder am Wochenende laufend nebenbei geschäftliche E-Mails beantworten.
Arbeitgeber können nicht nur durch zu wenig Erfassung gegen das Arbeitsrecht verstoßen. Umgekehrt kann auch der Arbeitnehmerdatenschutz zum Problem werden.
Das bekam eine Berliner Praxis für Radiologie zu spüren. Sie hatte eine Software zur Planung und Erfassung der Arbeitszeiten eingeführt, bei der sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter biometrisch, d. h. per Fingerabdruck anmelden mussten. Ein Arbeitnehmer, der den Fingerabdruck aus Datenschutzbedenken verweigerte und seine Arbeitszeiten weiter handschriftlich festhielt, erhielt zwei Abmahnungen. Gegen diese wehrte er sich erfolgreich: Für das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg waren sie unverhältnismäßig (LAG Berlin-Brandenburg, 04.06.2020 - 10 Sa 2130/19).
Problematisch sind nicht nur biometrische Informationen. Wenn die Arbeitszeiterfassung gleichzeitig Daten zur Arbeitsleistung erfasst und speichert oder wenn sie per GPS Bewegungsprofile der Beschäftigten erstellt, droht ebenfalls Ärger. Arbeitgeber, die zusätzlich zu den Arbeits- und Pausenzeiten Daten erfassen und auswerten wollen, sollten sich im Zweifel datenschutzrechtlichen Rat einholen.
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